Campräumungen treffen auf Besetzung und Widerstand

Campraeumung

Am 28.5.14 kamen über 300 Polizeikräfte nach Calais um drei Camps im Stadtzentrum zu räumen, die seit Oktober existierten: Das “Syrische Camp”, das auf die Besetzung des Hafens folgte, das “Eritreische Camp” unter einer Brücke, das nach der Räumung ihres Squats ebenfalls im Oktober errichtet wurde und ein kleineres Camp nahe der Essensausgabestelle. Zusammen beherbergten diese Orte ca. 650 Menschen in Calais. Der Staat versuchte den Polizeieinsatz als humanitäre Intervention auszugeben, führte Krätze und fehlende Hygiene an, um die Zerstörung der Wohnstätten der Menschen dort zu rechtfertigen – ohne ihnen irgendeine altenative Lösung anzubieten.

Sie weigern sich zuzugeben, dass diese Probleme nur existieren, weil sie die Menschen zwingen unter Bedingungen von Überfüllung zu leben, ohne regelmässigen Zugang zu Toiletten, Duschen oder Orten, um Klamottten und Bettzeug zu waschen. Sie legitimieren diese paternalistische Intervention des Staates, indem sie Bilder von Migrant_innen als krank und unfähig für sich selbst zu sorgen zeichnen, statt die Verantwortung zu akzeptieren, die sie selbst für die Schaffung dieser Probleme tragen.

Der humanitäre Deckmantel, der dieser polizeilichen Räumung übergezogen werden sollte, hätte dünner nicht sein können. Letze Nacht kam Krankenhauspersonal zur Essensausgabe, um Medikamente gegen Krätze an diejenigen zu verteilen, die sie diese wollten. Die Szene erinnerte allerdings eher an Drogenhändler, die Passanten zu überzeugen versuchten Drogen gegen den Juckreiz zu kaufen, statt freie Patient_innen, die mit der medizinischen Behandlung einverstanden sind. Verständlicherweise zögerten viele Menschen unbekannte Tabletten gegen eine Krankheit, die sie vielleicht gar nicht haben, zu schlucken – unter den wachsamen Augen der Polizei, und das einen Tag bevor sie aus ihren Wohnstätten vertrieben werden würden.

Der zweite Teil der humanitären Operation verlief nicht viel besser für die Präfektur. Nachdem die Camps von Bewohnern “gereinigt” waren, kamen Busse an, die Menschen mitnehmen sollten um eine Dusche benutzen zu können und saubere Klamotten und Decken zu erhalten. Wiederum waren staatliche Übersetzer_innen damit beschäftigt alle davon zu überzeugen an Bord zu kommen, ohne ein Wort darüber zu verlieren, was geschehen würde, wenn die humanitären Aktivitäten beendet wären. Kaum eine_r ging und oft wurde den Übersetzer_innen und Autoritäten selbst vorgeschlagen: “Geh doch selbst duschen!” Die zwei Menschen, die einverstanden waren, wurden hinterher zu einer Notunterkunft für Obdachlose gebracht, das 150 km von der Stadt entfernt liegt. Um auf die Zerstörung ihrer Unterkünfte vorbereitet zu sein, war eine große Anzahl an Menschen gekommen um die SALAM Essensausgabe Montagnacht zu besetzen. Heute, als die Räumungen stattfanden, brachten immer mehr Leute ihre Habseligkeiten dorthin mit der Absicht dort zu bleiben. Aus Angst, dass Polizei versuchen könnte, einzudringen und die Menschen dort zu vertreiben und festzunehmen, wurden Eingänge barrikadiert. Polizeieinheiten der Gendarmerie versuchte auf das Gelände zu kommen, indem sie die Zäune, die SALAM umgeben, an zwei Stellen aufschnitten und sich ihren Weg hinein zwangen. Auf der einen Seite wurden sie von Menschen abgewehrt, die zusammenkammen um das Loch, das die Polizei schuf, zu verbarrikadieren, auf der anderen Seite gelang es der Polizei einzudringen, aber sie wurden sofort umringt und vertrieben.

Rufe: “Wir sind menschlich! Ihr seid Tiere!” und “Keine Polizei!” begleiteten sie auf ihrem Weg. Nachdem sie die Stärke des Widerstands und die Schwierigkeiten, die sie haben würden durch die Barrikaden zu kommen, erkannt hatten, zog sich die Polizei zurück und unternahm keine weiteren Versuche mehr hinein zu gelangen.

Indem wir lernen gemeinsam über Grenzen hinaus, die benutzt werden, um uns zu spalten und zu beherrschen, zu kämpfen, werden wir stärker und fähig zukünftige Attacken auf die Autonomie der Communities hier in Calais standzuhalten.

Die Stärkung durch ein erfolgreichen Standhalten eines Polizeiangriffs nach so vielen Erfahrungen von Erniedrigung und Entmenschlichung durch die Polizei wird nicht so leicht in Vergessenheit geraten und wird uns in Zukunft Inspiration und Kraft verleihen.

Kurz darauf kamen Vertreter_innen der Präfektur zur Verhandlung. Die Besetzer_innen verlangten ihre Besetzung von SALAM am Folgetag fortsetzen zu können und Raum zum Bau eines neuen Camps ohne Angst vor Schikanierung durch die Polizei zu erhalten. Zudem forderten sie die Errichtung von Duschen, Toiletten und anderen sanitären Anlagen, damit sie in Gesundheit und Würde leben können, während sie an der Grenze festsitzen. Am Ende gestand der Staat ihnen zu, sie in den nächsten Tagen nicht polizeilich räumen zu lassen, aber forderte die Leute auf, selbstständig zu gehen und sich in Gegenden außerhalb des Stadtzentrums zu verziehen. Sie versprachen nichts in Bezug auf Polizeieinsätze, deuteten nur vage an, dass Leute, die in kleineren Gruppen außerhalb von Calais aufhielten dort möglicherweise eine Weile bleiben könnten. Es ist offensichtlich, dass die Polizei Menschen in entlegenen Orten isolieren will, wo sie Angriffen schutzlos und ohne öffentliche Aufmerksamkeit ausgeliefert wären. Dieses Szenario ist den Menschen, die im “Dschungel” am Stadtrand von Calais leben, schon lange vertraut.

Was nach dem heutigen Tag klar ist, ist dass der Staat alles versucht um diese Menschen unter den Teppich zu kehren, ohne dass irgendwer sie direkt bei dieser Gewaltausübung beobachtet. Hinter all den Lippenbekenntnissen zu Humanitarismus verbirgt sich lediglich der staatliche Versuch, diese Menschen und ihren Kampf um Würde in Europa unsichtbar zu machen und die Tatsache, dass so viele Menschen gegen ihren Willen gezwungen werden in einer solch feindlichen und unmenschlichen Umgebung zu leben, aus dem öffentlichen Blickfeld verschwinden zu lassen. Die Widersprüche, die täglich von Menschen durchlebt werden, die Gefahren in ihren Heimatländern entfliehen (oft durch westliche humanitäre Interventionen verursacht oder verschlimmert), nur um in Frankreich illegalisiert, verachtet und dehumanisiert zu werden, in einem Land, das sich den Menschenrechten verschrieben hat, sind zu groß, um sie zu beschreiben. Die Gewalt des europäischen Grenzregimes muss unsichtbar bleiben. Um ihre Heuchlerei zu verstecken, bieten sie nur eine Alternative an: verschwinde still und leise oder werde weggeschoben.

Aber der Kampf geht weiter. Die drei im Februar besetzten Objekte können ab Freitag (30.05.) geräumt werden (am gleichen Tag sollen auch die Menschen aus SALAM verschwunden sein), und wir erwarten eine weitere schnelle und gewalttätige Räumung ohne den geringsten Versuch, die Wohnungskrise zu bewältigen. Bis zum Ende der Woche will die Regierung alle Migrant_innen und Refugees auf der Straße leben sehen, ohne Unterkunft, verfolgt durch die Polizei und so verängstigt, dass sie die Stadt für immer verlassen. Aber die Menschen sind stark, wie sie hier seit mehr als zehn Jahren beweisen. Sie werden nicht einfach verschwinden. Sie leisten Widerstand und setzen ihre Reisen fort, unbeeindruckt von den Schikanen und Notlagen, in die sie geraten.